Migratik
So heißt das neue Fach. Wir sind die Ersten, die darin unterrichtet werden.
Wir sind in diesem Schuljahr Teil eines Schulversuchs. Migratik heißt das neue Fach. Es soll soziales Lernen mit Geografie, Kultur, Sprache und Allgemeinbildung verknüpfen.
„Die eierlegende Wollmilchsau also“, meint Paul, unser Oberkluger.
Herr Strom, unser Lehrer, ignoriert ihn gekonnt.
„Immer zu zweit zusammen“, ordnet er am Beginn der ersten Stunde an. „Und ein guter Rat von mir, macht es mal anders als sonst!“
Das soll wohl das soziale Lernen sein!
Die Geschichte zum Anhören
Hier kannst du dir die Kurzgeschichte „Migratik“ von Rachel van Kooij auch anhören:
Keiner beachtet ihn. Wenn schon Paare, dann bitte so, wie wir es wollen. Fahad und Yosr klatschen sich ab. Paul geht mit Emma zusammen.
Luisa und Emilia, meine beiden „best friends forever“, schauen mich waidwund an.
„Du bist am sozialsten von uns dreien“, schmeichelt Luisa.
„Bitte, bitte.“ Emilia umarmt mich.
Ich gebe nach und schaue mich um. Der „Ich-suche-einen-Partner-Markt“ neigt sich bereits dem Ende zu. Emilia hat mich zu lange umklammert.
„Lukas, du kannst mit mir zusammengehen“, rufe ich, obwohl er sonst nicht mal meine dritte Wahl wäre. Er ist einer unserer Außenseiter.
„Nein, danke. Ich bin schon mit Yazib“, erteilt er mir eine Abfuhr.
Auch Hanna winkt ab. Sie hat sich Dajana ausgesucht, die so wie ich bei einem Best-friends-forever-Trio den Kürzeren gezogen hat.
„Lea also mit Gurpreet“, beschließt Herr Strom für mich.
Mit Gurpreet. Das wird eine Katastrophe!
„Direktimport“, nennt Emma sie.
„Außerordentliche Schülerin ohne Deutschkenntnisse“ lautet ihre offizielle Bezeichnung.
„Wieder so einer“, hatte mein Vater sich aufgeregt.
„Eine“, musste ich ihn aufklären.
„Siehst du, genau das meine ich! Nicht einmal der Name ist für unsere Kultur verständlich.“
Seine übliche Tirade. Es war sinnlos, ihn darauf hinzuweisen, dass er auf Du und Du mit Andrea, einem Pizzeriabesitzer am Gardasee, ist.
Gurpreet ist allerdings eine Last, wenn es um Teamwork geht. Versteht kaum etwas und schweigt sich durch den Unterricht. Ich werde alle Aufgaben allein erledigen müssen.
„Ihr werdet staunen!“, dringt Herrn Stroms Stimme zu meinen trübsinnigen Gedanken durch. „Migratik wird eure kühnsten Träume übertreffen.“
Keiner glaubt ihm das, aber mehr will er nicht verraten.
Wir trotten hinter ihm in den Computerraum.
Zum Glück müssen wir nicht neben unseren Teampartnern sitzen. Ich setze mich zu Emilia und Luisa. Gurpreet sucht sich eine einsame Ecke. Jeder erhält einen eigenen Laptop und Kopfhörer.
Auf meinem Bildschirm erscheint eine Stadt am Meer mit Sandstrand, Palmen und breiten Einkaufsboulevards unter tropischer Sonne. Kovalam heißt sie.
Werden wir jede Migratikstunde in einer anderen Stadt verbringen und so virtuell die Welt kennenlernen? Das wäre cool!
Sekunden später zerplatzt dieser Wunschtraum. Mein Bildschirm zeigt ein Klassenzimmer voll mit Schülern in Uniform und ich erfahre auf Englisch, dass ich ab sofort vier Stunden die Woche per Zoom hier am Unterricht teilnehmen muss. Eine Stunde Mathe, eine Stunde Geschichte und zwei Stunden Malayalam, die Unterrichtssprache.
Das sind die letzten Worte, die ich verstehe. Ab da bin ich auf mich allein gestellt. Es ist entsetzlich. Wenn ich versuche, mich irgendwie auf Englisch zu verständigen, ernte ich einen mahnenden Blick der Lehrerin in Kovalam. Gurpreet müsste ebenso in dieser Klasse sitzen, wahrscheinlich irgendwo hinter mir. Die Kameraeinstellung ist nur nach vorne ausgerichtet. Ob sie sich auch so verloren fühlt?
Rachel van Kooij
Ich kam mit 10 Jahren nach Österreich und musste erst Deutsch lernen. Das war nicht einfach. Das erste Jahr habe ich mich oft als Außenseiterin gefühlt. Zum Glück wurde ich nicht gemobbt.
Auf meiner Homepage www.rachelvankooij.at kannst du mehr über mich und meine Bücher erfahren. Wenn du einmal eines meiner Bücher als Referat verwenden willst und Fragen hast, kannst du mir auch gerne ein E-Mail schicken. Mein neuestes Buch heißt „Niemand so wie ich?“. Es wird im November-Spot vorgestellt.
Nach dieser ersten Stunde Migratik herrscht in unserem realen Klassenzimmer ein Durcheinander. Eine Weltkarte am Whiteboard zeigt unsere Schulstandorte. Kovalam liegt in Südindien.
Luisa und Emilia sind im Tschad gelandet, Emma und Paul in Südkorea.
„Wir können auf keinen Fall einfach so in ein paar Stunden pro Woche eine völlig neue Sprache lernen“, protestiert Emma.
Luisa findet es unfair, dass Yosr und Fahad in Kairo dem Unterricht folgen dürfen. „Das ist ja überhaupt keine Herausforderung für die“, meint sie.
Fahad grinst. „Bin dort Klassenbester in Mathe. Ich bin ja hier zurückgestuft worden, und den Stoff habe ich schon in meiner alten Schule gelernt. Und Mathe ist auf Arabisch sowieso viel logischer.“
Alex, eine Miniaturausgabe meines Vaters, berichtet, dass ein Schüler seiner brasilianischen Klasse ihm gesagt habe, dass die vielen Ausländer leider insgesamt das Lernniveau nach unten …
Er verstummt, weil es ihm dämmert, dass er jetzt selbst so ein Ausländer ist.
Was bei Tatjana zu einem Lachkrampf führt. Sie schreibt in Deutsch nur knappe Vierer. Aber in Physik ist sie ein Genie. Seitdem sie in unsere Klasse geht, ist unser Physiklehrer aufgeblüht und seine Stunden, die er im Dialog mit Tatjana verbringt, sind für uns total entspannt.
***
In der Pause kommt Gurpreet aus ihrer Ecke heraus auf mich zu. Was mich überrascht.
„Es war schlimm, oder?“, fragt sie mich.
Einen Augenblick lang bin ich versucht, das großspurig zu verneinen, dann nicke ich.
„Und bei dir? Für dich ist es wieder eine neue Sprache.“
Gurpreet lächelt. „Ja, wenn es Hindi wäre, aber Malayalam sprechen wir zu Hause. Ist leichter als Deutsch, viel leichter.“